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Interview: Die menschliche Seite der agilen Transformation

  • Autorenbild: Bei Bei Yu
    Bei Bei Yu
  • 19. Sept.
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 20. Sept.


Die agile Transformation ist mittlerweile ein Thema, das in aller Munde ist. Kaum ein Unternehmen verzichtet darauf, über sein erfolgreiches „Transformieren“ zu sprechen. Trotzdem bleibt ein wesentlicher Punkt oft unausgesprochen: der Mensch und seine Psyche. Dieser Meinung ist Christian Schmidt, der als selbstständiger Organisationsentwickler viele Change-Projekte in Unternehmen begleitet hat. Dabei hat er erlebt, wie schmal der Grat zwischen erfolgreicher Transformation und „agiles Theater“1 ist. Im Interview erzählt er uns, wie er mit einem systemisch-psychodynamischen Ansatz seine Kund*innen oft zur menschlichen Seite der agilen Transformation führt – dem Dreh- und Angelpunkt für das Gelingen.

Christian Schmidt: Coach für agile Transformation

Zur Person: Christian Schmidt stieg 2005 als Informatiker ins Berufsleben ein und arbeitete jahrelang in der Software-Entwicklung sowie als Manager und Berater in einer Consulting-Firma. Als Führungskraft in der Industrie hat er zudem viele Projekte zur Digitalisierung der Produktion betreut und machte sich dann selbstständig. Seinem Herzensthema Organisationsentwicklung geht er nun als freier Coach und Berater nach und begleitet die Change-Projekte seiner Kund*innen mit demselben Enthusiasmus, den er früher als Führungskraft bei Veränderungsvorhaben empfunden hat.



Bei Bei Yu: Aktuell befinden sich viele Unternehmen in der agilen Transformation. Christian, du bist schon seit vielen Jahren in diesem Umfeld unterwegs. Was ist für dich eine agile Transformation?


Christian Schmidt: An der Oberfläche ist eine agile Transformation zunächst eine Änderung des Arbeitsmodells. Die Wurzeln der Agilität liegen in der Softwareentwicklung: Man suchte Anfang dieses Jahrhunderts ein Mittel gegen den großen Schmerz der gängigen Methoden. Man schrieb monatelang dicke Bücher, die vorab definierten, was die Software zu tun hat. Danach programmierten die Entwickler*innen alles im „stillen Kämmerlein“ und mussten lückenhafte Spezifikationen häufig nach eigenem Gutdünken füllen. Wenn die Software Jahre später übergeben wurde, brauchte man sie oft gar nicht mehr oder sie tat schlicht das Falsche.

Meine Beschreibung ist etwas zugespitzt, aber im Kern trifft sie genau das Problem, das man mit dem „Agile Manifesto“2 lösen wollte: Wir sparen uns die dicken Bücher und holen uns als Programmierer*innen schneller und häufiger Feedback von den Kund*innen. Die Software wird so schneller wirksam und man hat weniger umsonst gearbeitet.


Bei Bei: Und dieses Vorgehen der Softwareentwicklung hat man auf Unternehmen übertragen?


Christian: Genau, Die agile Transformation im Allgemeinen überträgt die schnellen Zyklen, die Kundennähe und die Idee des kontinuierlichen Lernens auf andere Tätigkeiten im Unternehmen. Vordergründig geht es um neue Abläufe, Rollen und Werkzeuge. Ich bin aber der Überzeugung, dass unter dieser formalen Oberfläche die eigentliche Musik spielt: Im Grunde ist die Transformation „nur“ ein Change-Projekt, das Menschen zu einem anderen Verhalten bewegen will. Und damit tauchen wir ein in die Tiefe der Verhaltenspsychologie und in das wundervolle und komplexe Thema „Mensch“. Seit Sigmund Freud wissen wir, dass der Mensch sich vom Unbewussten leiten lässt. Deshalb trifft man bei Transformation stets auf Widerstände, die man sich rational nicht erklären kann. Denn der Mensch ist eben kein rein rationales Wesen. Wer das nicht berücksichtigt, läuft Gefahr bei einer agilen Transformation genauso zu scheitern wie bei jedem anderen Change-Projekt.


Bei Bei: Als Informatiker kommst du ursprünglich aus einer rationalen Welt. Wie hast du die Organisationsentwicklung für dich entdeckt?


Christian: In der Industrie sammelte ich viel praktische Führungserfahrung und habe Change-Projekte als faszinierende Herausforderung erlebt. Ich sehe mich als theoretisch informierter Praktiker und habe neben einer Ausbildung zum Systemischen Coach auch eine Qualifikation in Gruppenanalyse abgeschlossen. Bei der Gruppenanalyse geht es mir weniger um den therapeutischen Aspekt, sondern darum, die psychologischen Prozesse in Gruppen zu verstehen, um Konflikte bei der Zusammenarbeit nachhaltiger bearbeiten zu können.


Bei Bei: Unsere Leser*innen sind sehr gespannt, zu erfahren, wie dir deine Kompetenz in der Praxis bei agilen Transformationen hilft. Kannst du uns ein Beispiel erzählen?


Christian: Gerne. Vor einiger Zeit erhielt ich eine unverdächtige Kundenanfrage. Ein großes Versicherungsunternehmen führte gerade in einem Bereich mit über hundert global verteilten Mitarbeitenden eine agile Transformation durch – mit Change-Team, Plänen, Schulungen zur neuen Arbeitsweise et cetera. Die Anfrage an mich lautete: „Eigentlich laufen die agilen Teams rund. Aber es gibt ein Team, das gar nicht funktioniert. Die Product Ownerin benimmt sich wie eine Gutsherrin. Sie treibt die Entwickler*innen geradezu diktatorisch an, wodurch ständig Konflikte entstehen. Christian, kannst du da nicht mal eine Konfliktmoderation machen?“ Das war mein Einstieg.


Bei Bei: Das klingt auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich.


Christian: Ganz genau. Daher fuhr ich ganz unvoreingenommen hin und führte eine Konfliktmoderation nach üblichen Methoden durch: Wir trainierten Softskills wie Feedback-Geben, besprachen das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun3, etc. Aber das hat alles nicht nachhaltig geholfen! Nach den Workshops und einigen ersten Erfolgen fiel das Team wieder in alte Konfliktmuster zurück. Mir dämmerte es langsam, dass hinter der Transformation etwas faul sein könnte und sich eine Art „Leiche im Keller“ versteckt.

Das Problem-Team war vielleicht nur ein unbewusster Austragungsort eines größeren Konflikts.

Das ist so ähnlich wie in der Biomechanik beim Sport: Wenn dir dein Knie wehtut, ist nicht immer das Knie schuld. Vielleicht hast du schlechte Schuhe oder etwas an deiner Hüfte klemmt. Das Problem löst du nicht durch eine Knie-OP, sondern du musst an die Wurzel! Und so sind in Organisationen auch nie einzelne alleine schuld an Konflikten, sondern die Beziehung zwischen den Personen ist gestört.


Bei Bei: Wie bist du dem Problem auf den Grund gegangen?


Christian: Ich habe einen systemisch-psychodynamischen Ansatz verfolgt. Die systemische Idee ist mittlerweile gut bekannt: Systemiker*innen verwenden nie einseitige Erklärungen, die das Problem bei Einzelnen sehen. Stattdessen ist ihnen klar, dass es immer zirkuläre Abhängigkeiten und Rückkopplungen gibt. Daher betrachten sie immer die Relationen zwischen den Menschen.


Die psychodynamische Sichtweise ist vermutlich weniger bekannt: Dieser Ansatz berücksichtigt, dass sich in Teams immer ganze Menschen begegnen, die alle ihre vollständige Psyche mit zur Arbeit bringen. Und jede Psyche führt ein unbewusstes Eigenleben. Die Prägung durch unsere Vorgeschichte, Erwartungen, Erlebnisse reflektieren wir nur zum Teil. Denn unsere Vernunft mit ihren Zahlen, Daten und Fakten ist nur die Spitze des Eisbergs, der sichtbare Teil über der Wasseroberfläche. Unter der Wasseroberfläche lauert ein riesiger Berg aus unbewussten Werten, Gefühlen und Ängsten. Wenn sich zwei solcher Menschen-Eisberge begegnen, kracht es ordentlich unter Wasser! Und noch wilder wird es, wenn in Teams eine Eisberg-Karambolage stattfindet.


Der Eisberg der agilen Transformation: Im Unsichtbaren lauern Spannungen
Der Eisberg als Bild für unsichtbare Gedanken und Gefühle unter der Oberfläche

Das Eisberg-Bild ist natürlich vereinfacht. Theoretisch tiefer geht hier das Modell des deutsch-jüdischen Psychoanalytikers Siegmund H. Foulkes. Foulkes war aus Nazideutschland geflohen und hatte in England die Gruppenanalyse mitbegründete. Er entwarf das Modell der Matrix. Stell dir für dieses Konzept ganz grob eine Gruppe von Menschen vor, in der jede bewusste und unbewusste Kommunikation ein eigener Faden zwischen den Menschen ist. Dann ist die Matrix ein Geflecht aus Fragen wie: Was man denkt über die anderen? Was hält man von den gesagten und ungesagten Meinungen der Vergangenheit? Was ist in unserer Gruppe erlaubt oder tabu? Und so weiter.

Alle bringen in die Matrix zusätzlich ihre individuelle Vorgeschichte und kulturelle Prägung mit.

Dann gleicht die Organisation einem riesigen Wandteppich, an dem oft seit Jahrzehnten gewebt wird. Kein Team arbeitet also im luftleeren Raum, sondern ist in die Matrix ihrer Organisation buchstäblich verstrickt. Und das muss man betrachten, wenn man Situationen erklären möchte, die nicht rational erscheinen. Die Begründung, die im Unbewussten schlummert, kommt durch die Matrix ans Tageslicht.


Bei Bei: Wie konntest du den Ansatz in dem Fall deines Kunden einsetzen?


Christian: Die Ausgangslage war, dass die Entwickler*innen sich von der Product Ownerin gegängelt und nicht wertgeschätzt fühlten. Jetzt reicht es nicht aus, das Problem einseitig zu betrachten und die Product Ownerin eigensinnig zu nennen oder umgekehrt das Entwicklungsteam überempfindlich. Stattdessen ging ich der Matrix auf den Grund, die in der Vorgeschichte gewebt wurde: Zuvor war in diesem Bereich jahrzehntelang in einem hierarchischen Verhältnis zusammengearbeitet worden: Die Product Owner*innen standen als Kund*innen oben, die Entwicklungsteams als Lieferant*innen unten. Noch dazu gehörten sie zu zwei verschiedenen Unternehmen. Es war also reell der eine Kunde, der andere Lieferant – und zwar in einer Markt-Situation, in der der Lieferant fast vollständig von diesem einen Großkunden abhängig war und der Kunde hingegen auf die Spezialisten des Lieferanten existenziell angewiesen war.


Bei Bei: Das klingt nach einem heiklen Konstrukt einer jahrelang gewebten Matrix.


Christian: Genau. In der jahrzehntealten Beziehung gab es nämlich diese doppelte Abhängigkeit, die zu unbewussten Aggressionen führen kann. Diese Aggression sucht sich dann ihren Weg in die tägliche Zusammenarbeit.


Bei Bei: Und warum äußerte sich diese Aggression nur in einem von vielen Teams?


Christian: Das lässt sich vielleicht mit der Omega-Position nach dem Modell Rangdynamik von Raoul Schindler4 erklären.

In einer Gruppe von Menschen gibt es oft die Dynamik, dass alle mitziehen, aber eine Person nimmt die Omega-Position an und schießt quer. Diese Person ist kein schlechter Mensch, sondern übernimmt eine wichtige Funktion für das Team.

Oft sucht sich die Rolle den Menschen aus. Nicht umgekehrt! Oder sie wird unbewusst von der Gruppe in die Rolle gedrängt. In meinem Beispiel hat das eine „Problem-Team“ stellvertretend die Konflikte für die anderen ausgetragen. Hätte man das Team entfernt, hätten sich die Konflikte der anderen Teams sicherlich verstärkt.


Bei Bei: Konntest du dieses Thema überhaupt ansprechen? Denn von Berater:innen werden üblicherweise schnelle Fortschritte erwartet und nicht, dass er ein Riesen-Fass aufmacht.


Christian: Hier müssen sich Berater*innen von der Allmachtsphantasie verabschieden und demütig werden. Ihr Dilemma ist: Du bist immer zum Abschuss freigegeben, wenn du unbequem wirst. Wenn man eine solche Hypothese wie die „doppelte Abhängigkeits-Aggression“ zu forsch auf den Tisch bringt, kann man sich schnell das Vertrauen verspielen. Und auch als Berater sehe ich mich nicht im Besitz der einzigen Wahrheit, die ich meinen Kund*innen um die Ohren hauen darf. Ich muss zunächst meine Hypothese überprüfen – beispielsweise mit Workshops oder indem ich das System anderweitig in Bewegung bringe. Wenn ich das Selbstbild des Unternehmens zu früh enttäusche, provoziere ich das „Immunsystem“ – also die Abwehr der Organisation. Denn manchmal ist eine Hypothese so schmerzhaft, dass die Organisation sie beim besten Willen nicht verträgt.


Bei Bei: Das hört sich nach einem Drahtseilakt an. Wie bist du weiter vorgegangen?


Christian: Anstatt in die Konfrontation zu gehen, habe ich mit ihnen weiter daran gearbeitet, das Miteinander und die Ergebnisse zu verbessern. Albert Camus sagte sinngemäß: „Der Berater schafft Gelegenheiten für den Zufall.“ Wir sind leider keine Wunderheiler und müssen geduldig agieren. So war ein Teil des Problems, dass die Führung des Kunden sich offiziell durch die Transformation auch eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Kund*innen und Lieferant*innen wünschte. Dieser Wunsch wird aber nur dann von den Teams erst genommen, wenn die Führung auf beiden Seiten mit gutem Beispiel vorangeht. Lebt die Führung diese neue Arbeitsweise authentisch vor, ist Veränderung möglich. Das war einer der Erfolgsfaktoren in meiner Arbeit mit dem Kunden.


Bei Bei: Und wie hat dieses Projekt dich verändert?


Christian: Das ist eine sehr gute Frage. Ich nehme wahr, dass ich demütiger geworden bin. Es ist nicht immer möglich, alles zu verstehen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Als Software-Entwickler musste ich sachliche Probleme lösen, die kompliziert waren. Die Arbeit mit Menschen ist hingegen komplex – besonders in Gruppen. Wer sich dann noch souverän fühlt, macht sich oft selbst etwas vor.


Bei Bei: Wenn ein Agile Coach oder Organisationsentwickler*in dich nach drei Tipps für die agile Transformation fragt, was würdest du antworten?


Christian: Spontan würde ich folgende Tipps geben:

  1. Macht eine ehrliche Selbsteinschätzung: Wieviel Zeit und Kraft haben wir zuletzt aufgewendet, um Methoden und Prozesse zu (er)klären? Also wieviel Zeit verbringen wir oben auf dem Eisberg über der Wasseroberfläche? Und wie oft führt ihr persönliche Gespräche, um herauszufinden, wie sich die Menschen im Veränderungsprozess gerade fühlen? D.h. sich einen Überblick zu verschaffen, wie es unter der Wasseroberfläche aussieht. Und wenn Letzteres nicht mindestens ein Drittel der Gesamtzeit ausmacht, würde ich mir sehr große Sorgen um die Transformation machen. Denn in Situationen zu kommen, die nicht sachlich-schematisch gelöst werden können, braucht man Mut. Das lernen Manager*innen in der Regel aber nicht und bleiben lieber sachlich.

  2. Denkt daran, dass eine agile Transformation ein langwieriger Kulturwandel ist. Und der gelingt nur, wenn die Führung durch konsequentes Vorleben die Mannschaft mitzieht. Wenn beispielsweise in der neuen Welt Entscheidungen nicht mehr in Steuerkreisen getroffen werden, muss die Führung lernen, nicht mehr alles mitzuentscheiden.

  3. Sucht euch immer eine externe Supervision. Auch mit mehreren Berater*innen im Projekt behält man nie auf Dauer den unverstellten Blick von außen. Hier müssen wir Berater*innen unser Selbstbild etwas drosseln und können dabei vom regelmäßigen Austausch mit einem*r außenstehenden Supervisor*in profitieren.


Bei Bei: Christian, vielen Dank für das offene Gespräch und für den Einblick unter die Wasseroberfläche!


Mehr zu Christian Schmidt: www.canau.de


Christian Schmidts Buchtipps:

  • Edgar Schein: Humble Consulting: How to Provide Real Help Faster. – Der Titel deutet schon an, welche Einstellung der Berater:innen hier empfohlen wird. Diese Einstellung teile ich weitestgehend.

  • Martin Lüdemann et al.: Systemisch-psychodynamische Organisationsberatung: Konzepte und Anwendungen. – Den Autor schätze ich sehr als meinen Kooperationspartner und sehe das Buch als exzellente Einführung in den systemisch-psychodynamischen Ansatz.

  • John Kotter: Our Iceberg Is Melting: Changing and Succeeding Under Any Conditions. – Das Buch ist zwar etwas älter, aber immer noch eine sehr unterhaltsame Parabel, die als Einstieg die Veränderungsprozesse im Allgemeinen sehr anschaulich erläutert.


1 Agiles Theater: oberflächliche oder unechte Anwendung agiler Methoden, bei der zwar agile Praktiken und Terminologie verwendet werden, die zugrunde liegenden Prinzipien und Werte jedoch nicht wirklich gelebt werden. Es handelt sich um eine Art von Schein-Agilität, bei der die äußere Form gewahrt wird, während die innere Transformation fehlt.

3 Das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun: https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-kommunikationsquadrat

4 Rangdynamik Modell von Raoul Schindler: https://dieprojektmanager.com/rangdynamik-modell/

 
 
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