Leadership, nein danke! – Gehen uns die Führungskräfte aus?
- Judith Praßer
- 16. März 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Sept. 2024
Warum sich immer mehr Angestellte von Führungspositionen abwenden und warum wir genau diese Menschen brauchen.
Chef sein – wer würde es nicht wollen? Vor einigen Jahrzehnten ist das sicherlich noch eine rhetorische Frage gewesen. In einer Zeit, als Führungskräfte noch „Direktoren“ hießen, schien die priveligierte Chefetage ein Traum: Vom Chauffeur in die Firma gebracht, läuft man an der Vorzimmerdame mit ihrer Schreibmaschine vorbei, um sich endlich im Büro auf einem Ledersessel hinterm Mahagonischreibtisch niederzulassen. Wahrscheinlich ist es auch in den 60er-Jahren nie so gewesen, aber die Vorstellung der Respektsperson mit Aktentasche wurde gerne medial inszeniert. Das Dasein als Chef hatte ein angenehmes Image (zumindest für Männer, auch wenn das Thema Gender in diesem Artikel nicht im Fokus steht).
Heute sieht das Image anders aus. In Gesprächen mit Bekannten und auch in öffentlichen Diskursen wird häufig die Unlust am „Chef-Sein“ artikuliert. Man unterhält sich mit Menschen, die Angebote in Richtung einer Führungslaufbahn dezidiert ablehnen. Auch Studien zeigen, dass der Anteil der Mitarbeitenden mit Leitungsambitionen gering ist: Nur weniger als jede(r) Siebte möchte auf der Karriereleiter die Stufe der Personalverantwortung erklimmen.[1] Kann es sein, dass uns im Zuge dieser Entwicklung genau diejenigen potenziellen Führungskräfte weglaufen, die wir am dringendsten brauchen? Und wenn ja, wie schaffen wir es, sie doch noch zu überzeugen?

Ist Führungsskepsis eine besondere Qualität?
Ehrlich gesagt, bin ich zwiegespalten: Einerseits ziehe ich meinen Hut vor Menschen, die eine Führungslaufbahn ablehnen, obwohl sie ihnen von den Vorgesetzten angeboten wurde. Denn gerade, wenn eine andere Person uns etwas zutraut und somit ein positives Bild auf uns projiziert, ist es hart, nein zu sagen, oder? Letztlich sind wir doch alle empfänglich für Lob. Selbst der Erstbesteiger der Eiger Nordwand unternahm dieses Wagnis, weil einer in der Berghütte in die Runde rief: „Der Anderl macht das!“[2] Also zog Andreas Heckmeir ungeachtet aller vorausgegangenen Todesfälle los. Die alpinistische Anekdote ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie wirkungsvoll das Vertrauen anderer in unsere Fähigkeiten sein kann.
Wenn eine Person trotzdem bei ihrem Nein bleibt, habe ich vollen Respekt für diese selbstbestimmte Entscheidung. Andererseits finde ich es aus unternehmerischer Sicht sehr bedauerlich, dass hier ein Führungs-Paradoxon entsteht: Diejenigen, die sich gegen eine Teamleitung entscheiden, sind aus mehreren Gründen vielleicht gar diejenigen, die sie am besten ausführen könnten. Wie komme ich zu dieser Hypothese?
Distanz zur Rolle: Wenn eine Person skeptisch zu einer Beförderung eingestellt ist, ist zumindest sichergestellt, dass sie die Position nicht aus den falschen Gründen annimmt – Macht, Statusgewinn und Egomanie scheinen die Entscheidung nicht korrumpiert zu haben. Denn natürlich gibt es auch immer noch die Opportunist*innen, für die die Chefetage purer Selbstzweck ist. Ob sie die nötige Empathie für Mitarbeiterführung mitbringen, ist jedoch fraglich.
Empathie: Denn in puncto Empathie können wir unseren Führungsskeptiker*innen einiges zutrauen. Sie beweisen, dass sie sich selbst als Mensch mit persönlichen Bedürfnissen wahrnehmen. Umso wahrscheinlicher ist, dass sie ihrem Team ebenso begegnen.
Selbstreflexion: Und das Nachdenken über die eigenen Wünsche zeigt, dass sie sich reflektieren können. Das ist für mich der wichtigste Punkt: Selbstreflexion ist nicht nur entscheidend, um die eigene Führungsrolle gegenüber den Mitarbeitenden sinnvoll zu gestalten, sondern auch in die andere Richtung ist Reflexionsvermögen goldwert. Wer sich selbst hinterfragt, kann auch Strategien challengen und konstruktiven Input zur Verbesserung des Geschäftsbetriebs liefern.
Wie können wir potentielle Führungskräfte gewinnen?
Jede Person, die eine Führungsrolle ablehnt, hat ihre individuellen Gründe. Doch falls wir es hier wirklich mit einem Trend zu tun haben, sollten wir folgenden möglichen Motiven besondere Aufmerksamkeit schenken:
Fehlende Vorbilder: Wir orientieren uns an dem, was wir sehen. Wenn man die eigenen Vorgesetzten als unzufrieden oder unangenehm, vielleicht sogar als machtlos und überfordert erlebt, nährt sich die Befürchtung, selber zum „Depp vom Dienst“ zu werden.
Work-Life-Balance: Der Diskurs zu Fragen, wie man Berufs- und Privatleben in Einklang bringt, hat schon vor mehreren Jahrzehnten begonnen und an Aktualität nicht verloren. Vielen Arbeitnehmenden ist die Work-Life-Balance wichtig,[3] die sie durch eine Führungsposition bedroht sehen könnten.
Zweifel am Sinn: Ein weiterer Trend, den der Diskurs um die Gen Z aufzeigt, ist der Wunsch, selbstwirksame Sinnhaftigkeit in der Arbeit zu finden.[4] In Bezug auf eine Führungsposition vermute ich, dass viele für sich keine Perspektive sehen, wie sie als Führungskraft in ihrer Organisation eine sinnvolle Wirkung entfalten können. In persönlichen Gesprächen kam zur Sprache, dass man nicht annimmt, etwas verändern zu können.
Mit Sicherheit lassen sich Personen, die ihr Nein zur Teamleitung schon ausgesprochen haben, nur schwer umstimmen. Wahrscheinlich wird man sie allein mit dem Angebot eines höheren Gehalts nicht locken können. Viel entscheidender ist für alle drei genannten Punkte die vorgelebte Unternehmenskultur.
Wenn man insbesondere die mittlere Führungsschicht zu Ja-Sagern erzogen hat, die Dienst nach Vorschrift machen, bleibt das kritischen Mitarbeitenden nicht verborgen. Stattdessen muss sichtbar sein, dass die eigenen Vorgesetzten sich auch mit ihren Chefs auf Augenhöhe unterhalten können, sollen und müssen. Das gute Führungs-Vorbild muss es auf allen Ebenen geben und darf daher gerne ganz oben beginnen. Um die Befürchtung zu entkräften, man verliere in der Teamleitung die Work-Life-Balance, können transparente Rahmenbedingungen hilfreich sein: Klare Regeln zu Zeiterfassung, Homeoffice, Meeting-Uhrzeiten in der Führungsebene wirken verlässlich und können Unentschlossenen die nötige Sicherheit bieten. Und der wichtigste Hebel, den man ansetzen kann, ist meiner Meinung nach der dritte Punkt: die Sinnhaftigkeit der Leitungsverantwortung. In einer modernen Organisation, in der Feedback willkommen ist und Strategien nicht in Stein gemeißelt werden, werden potentielle Führungskräfte viel klarer vor Augen haben, was sie bewirken können. Agile Methoden können zu einem Klima der gelebten Wirksamkeit beitragen, sind aber nicht der einzig mögliche Weg.
Letztlich muss in der Organisation klar erkennbar sein, dass Führungskräfte sich wirksam einbringen können - und zwar nicht nur im Rahmen der Personalführung selbst, sondern auch fachlich und strategisch. Aber natürlich lässt sich am wenigsten erreichen, wenn man es nicht ausprobiert. Daher richtet sich mein Appell auch an die Führungsskeptiker*innen selbst: Lasst euch die Teamleitungslaufbahn noch einmal durch den Kopf gehen. Tretet mit euren Vorgesetzten und HR in einen Dialog, wie ihr euch eine gelingende Führung vorstellt. Und sprecht auch mit eurem Team und holt euch Feedback. Mit Sicherheit werdet ihr dann erfahren, dass euer kritischer Geist die Organisation bereichern würde.
[1] Boston Cosulting Group: Human-centered leaders are the future of leadership (2021), https://web-assets.bcg.com/b4/67/551c4d9340a78a15ad08db02cf15/bcg-humancenteredleadersarethefutureofleadership-20210204-vf.pdf, S. 10 (Stand 28.01.2024). Zugegeben steht hier, dass der geringe Wunsch von “Non-Manager”, eine Führungsposition zu bekleiden, seit 5 Jahren stabil ist. Vergleichszahlen zu früheren Jahrzehnten liegen leider nicht vor. In dem PodCast Rethink Work berufen sich Julia Beil und Charlotte Haunhorst auch auf die Zahlen der Boston Consulting Group und gehen davon aus, dass die Zahl in den letzten Jahren noch gesunken ist. Vgl.: Warum immer weniger Menschen Chef werden möchten, in: Handelsblatt: Rethink Work, 28.01.2024, ca. Minute 2:00 bis 3:00 (Stand 3.2.2024).
[2] So erzählt es Andreas Heckmair in einem Interview mit Hansi Schlegel: https://youtu.be/4MNppboGckY?si=ZO9lcp5yj_dKET0r, ca. Minute 1:00 bis 3:30 (Stand 3.2.2024).
[3] Janina Mütze: Purpose ist für die Generation Z mehr als nur ein Schlagwort, in Annahita Esmailzadeh et al.: Genz Z. Für Entscheider:innen, Frankfurt/New York (2022), S. 92-95, hier S.93. Hier werden Umfragen zitiert, nach denen gerade die jüngere Generation großen Wert auf Work-Life Balance legt (49 % Zustimmung hinter 64 % für Gehalt).
[4] Ebd. 34% geben Sinnhaftigkeit als Kriterium für die Arbeitgeberwahl an.